Salzburger Nachrichten: 31. Oktober 2003

Die Gesetze der Lagune
Venedigs Geschichte und das milliardenschwere Dammprojekt MOSE


Hohe Staatskunst, strenge Gesetze, riesige technische Anstrengungen und moderne Unvereinbarkeitsregelungen sicherten über Jahrhunderte die Lagune von Venedig als Zentrum einer Weltmacht. Die ausgedehnte Wasserlandschaft lebt durch Natur und Menschenhand.


Ein Fluss wälzt sich träge bei Jesolo in Richtung Adria. Fischernetze hängen über den verwachsenen Ufern. Vögel flattern aus dem Schilfgürtel. Ewige Natur. Falsch! Das ist Natur aus zweiter Hand. Die Sile, die einst in die Lagune von Venedig mündete, bekam erst im 17. Jahrhundert ihr heutiges Bett. Sie wurde von den alten Venezianern um die Lagune herumgeführt. So wie andere Flüsse auch, etwa die Piave oder die Brenta.
Die Flüsse, die einst mit ihrem Geschiebe eine natürliche Voraussetzung für die Entstehung der Lagune waren, hätten diese wieder zerstört. Mit Recht fürchteten die Venezianer die Geröll und Sandfrachten, die langsam aber stetig ihre Lagune wieder hätten verlanden lassen. Keine Kosten, keine Mühen und auch kein streitbarer Diskurs der besten Wasserbauingenieure wurde gescheut, um diese Bedrohung abzuwenden.
Die Umleitung der Flüsse aus der Lagune ist nur ein Beispiel für das Ringen der Venezianer um ihren Lebensraum. Die ausgedehnte 550 Quadratkilometer große Landschaft zwischen Meer und Festland konnte nur mit riesigen technisch-wissenschaftlichen Anstrengungen und strengen Gesetzen gesichert werden. Die Lagune war als Zentrum der Weltmacht Venedig der ständigen Gefahr der Übernutzung ausgesetzt. Sie war Wegenetz, Stadtmauer und Nahrungsquelle. Fischer, Jäger und Bauern lebten von ihr. Ihre großen Salinen waren ein Reichtum Venedigs. Mit der Kraft von Ebbe und Flut wurden Mühlen angetrieben.


Festungen gegen das Meer
Mensch und Natur gefährdeten die flache Wasserlandschaft. Es galt übermäßiger Ausbeutung und Landgewinnung, dem beständige Nagen der Gezeitenströme, den Sturmfluten der Adria, der Verlandung und der Malaria zu begegnen. Eine Balance zwischen den vielfältigen Ansprüchen der Bewohner und den Grenzen der Belastbarkeit musste gefunden und immer wieder neu hergestellt werden.
Die Adria präsentiert sich in den Sommermonaten den Millionen Touristen vornehmlich als freundliche, sonnige Badewanne. Venedig-Urlauber, die sich hinaus auf den Lido oder nach Pellestrina machen, wundern sich daher über die massiven festungsähnlichen Verbauungen, die Murazzi, auf den schmalen langgestreckten Inseln vor der Lagune. Sie sind notwendig. Die Adria kann nämlich auch ganz anders. Sturmfluten haben schon mehrmals Stücke aus den schmalen Inseln herausgerissen. Jahrhunderte lang waren es Palisaden aus unzähligen Eichenstämmen, sorgsam beobachtet, ständig ergänzt und mit großem Aufwand vor Diebstahl bewahrt, mit denen die schmalen Inseln vor der Brandung geschützt wurden. Ab dem 18. Jahrhundert wurden sie durch die Murazzi ersetzt, eindrucksvoll zu sehen etwa vor dem Fischerdorf Pellestrina, auf der gleichnamigen, oft nur einen Steinwurf breiten Insel. Heute geben mächtige in das Meer hinausragende Wellenbrecher zusätzliche Sicherheit.


Umweltpolitik im modernen Sinn
Die Lagune als Lebensraum zu erhalten, wurde von der Republik Venedig über Jahrhunderte als ihre zentrale gesellschaftliche Herausforderung angenommen. Sie bewältigte diese Herausforderung mit hoher Staatskunst und großem Erfolg.
Das historische Venedig wird von Historikern als ein Vorbild für den Umgang mit begrenzten Ressourcen und großen Gefahren angesehen. Von einer vernetzten, ausbalancierten "Umweltpolitik im modernen Sinne" schreibt etwa der deutsche Umwelthistoriker Joachim Radkau in seinem Werk "Natur und Macht - Eine Weltgeschichte der Umwelt" (C.H.Beck 2000): "Nimmt man die umsichtige und vorausschauende Gestaltung der Umwelt als Maßstab, könnte zumindest Venedig in seiner Glanzzeit als Vorbild gelten."
Der italienische Historiker Piero Bevilacqua attestiert den alten Venezianern in seiner spannenden Schrift "Venedig und das Wasser" (*), sie hätten "wirtschaftliches Wachstum und ökologisches Gleichgewicht auf beispiellose Weise in Einklang zu bringen vermocht". Für Bevilacqua ist die Republik daher ein "Musterbeispiel weitsichtiger Politik und staatlicher Weisheit".


Galeerenstrafe und die "Ethik des Gemeinwohls"
Bevilaqua belegt seine These mit hunderten Quellen und Origalzitaten. Er schildert etwa die behördlichen Regelungen zum Verkauf von Wild und Fisch, frühe Schonzeitenverordnungen, strenge Vorschriften für die Größe der Maschen bei den Fischernetzen, die Verordnungen gegen illegale Landgewinnung in der Lagune oder das Verbot von baulichen Maßnahmen, welche die Zirkulation des Wassers in der Lagune behinderten. Übeltäter hatten mit strengen Strafen zu rechnen. "Bei Zuwiderhandlung wird der Schuldige zu zwei Jahren Galeere verurteilt, muss in Ketten die Ruder führen und 25 Dukaten Strafe zahlen", heißt es in einer Verordnung zum Schutz des Fischlaichs aus dem 16. Jahrhundert.
Modern muten die strengen Unvereinbarkeitsbestimmungen für die mächtige Behörde an, die über alle Belange der Lagune zu wachen hatte, der "Magistrato alle acque". "Alle Adligen, die Güter oder anderes in der Lagune von Venedig besitzen, werden von der Mitgliedschaft ausgeschlossen, da sie Gefahr laufen, ihr eigenes Interesse über das öffentliche zu stellen." So steht es in einer Verordnung aus dem Jahre 1505. Eine "Ethik des Gemeinwohls" hätte sich in Venedig durch die notwendigen gemeinsamen Anstrengungen zur Erhaltung der Lagune entwickelt und "jahrhundertelang das Wirken der Regierenden ausgezeichnet", folgert Piero Bevilaqua.
Mit dem Ende der staatlichen Selbständigkeit Venedigs im Jahr 1797 erlahmten die strategischen Anstrengungen zur Erhaltung der Lagune. Die Gefahren des Industriezeitalters, die Fabriken von Marghera, die besonders tiefen Kanäle für die Öltanker und die Großschiffahrt, das Steigen des Wasserspiegels der Adria belasten Stadt und Lagune zusätzlich. Beendet wurden und konnten diese Anstrengungen aber nie ganz werden.


Das Atmen der Lagune
Wie in einem gefährlich-reißenden Fluss fühlt sich der Bootsfahrer in manchen Kanälen der Lagune. Der Gezeitenstrom nagt mit Geschwindigkeiten bis zu acht Knoten ständig an den Inseln, er lässt Kanäle versanden, Sandbänke verschwinden und an anderer Stelle wieder entstehen. Die notwendigsten Wartungs- und Erhaltungsarbeiten mussten immer gemacht werden. Die Kanäle werden ausgebaggert und gekennzeichnet. Die Ufer der ausgedehnten Sumpfwiesen ("Barene") werden mit Holzpfählen befestigt. Verbauungen schützen die bewohnten Inseln.
Ebbe und Flut sind aber nicht nur eine Gefährdung der Inseln und Kanäle, sie sind vor allem das lebensnotwendige Atmen der Lagune. Bis zu einem Meter beträgt der tägliche Gezeitenunterschied. Das Wasser strömt durch die Kanäle, manchmal reißend, manchmal unmerklich stetig. Die Gezeiten schieben Lagunenwasser bei Ebbe durch die drei schmalen Porti in die offene Adria, (Lido, Malamocco und Chioggia) hinaus, und ziehen bei Flut wieder täglich durchschnittlich 400.000 Kubikmeter frisches Adriawasser hinein. Dieser bewegte Austausch reinigt die Lagune und hält sie am Leben. Die gesamte Ökologie mit ihren labilen Gleichgewichten ist darauf ausgerichtet.


Tod durch Ersticken
Die Notwendigkeit des freien gezeitenbedingten Wasseraustauschs ist auch die enge Grenze des milliardenschweren Hochtechnologie-Projektes MOSE. Es soll Venedig vor den immer häufiger werdenden Hochwassern retten. MOSE will bei drohendem Hochwasser die Lagune an den schmalen Porti zur Adria mit riesigen mobilen Deich-Modulen absperren. So soll das Wasser nicht in die Lagune vordringen und das berühmt gewordene "Aqua Alta" (Hochwasser) verhindert werden. Der italienische Regierungschef Silvio Berlusconi hat am 14. Mai dieses Jahres persönlich den Grundstein für das sechs Milliarden Euro Projekt gelegt. Für ein paar Tage im Jahr wird die Lagune diesen Eingriff wohl verzeihen. Wird ihr Atmen jedoch immer länger und immer häufiger unterbrochen, droht ihr der Tod durch Ersticken. Gegen dieses Gesetz der Lagune ist auch modernste Technik machtlos.
Eine Warnung des großen venezianischen Historikers und Wasserbau-Technikers Bernardino Zendrini scheint aktuell. Er meinte bereits im Jahr 1726 man müsse "sehr vorsichtig sein, wenn man Hand an Dinge legt, die das innere Gleichgewicht der Wasserbewegungen stören könnten, besonders jene, die von der Natur selbst zu einem System gefügt wurden, da die Natur klüger ist als die Menschen, wie groß ihre theoretischen und praktischen Erkenntnisse auch sein mögen."


Bildtexte: (Fotos: Heinrich Breidenbach)
- Mit Holzpfählen werden die Ufer vor dem ständigen Nagen des Gezeitenstroms geschützt.
- Murazzi vor Pellestrina: Festungen aus Stein gegen die Sturmfluten der Adria.
- Die letzten Tage einer Laguneninsel.
- Mächtige Wellenbrecher als zusätzliche Sicherheit vor dem Meer.
- Das verlassene Poveglia in der südlichen Lagune war früher ein Altersheim.
- Die Sile bei Jesolo. Der Fluss mündete in die Lagune und wurde umgeleitet.
(*) Piero Bevilaqua: "Venedig und das Wasser", Campus Verlag 1998 (leider vergriffen).