Salzburger Fenster: Nr. 40-2007

Wind- und Sonnenstrom aus Wüsten und Steppen
Billige und unerschöpfliche Potentiale für ganz Europa und alle seine Nachbarn


Der deutsche Physiker Gregor Czisch provoziert die Energiekonzerne ebenso wie die Anhänger strikt dezentraler Alternativenergien. Er plädiert für Wind- und Solarstrom aus Marokko, Mauretanien, Sibirien, Kasachstan oder Ägypten. Ein "Supernetz" für 1,1 Milliarden Menschen soll es möglich machen.


"Ja, das geht! Die Stromversorgung Europas ist mit vorhandenen Technologien und vertretbaren Kosten gänzlich ohne Atom-, Kohle-, Öl- oder Gaskraftwerke möglich."
Der deutsche Physiker Gregor Czisch provoziert mit seinen detaillierten Studien über die Möglichkeiten einer interkontinental vernetzten Nutzung von Wind- und Sonnenstrom nicht nur die atomare und fossile Energielobby. Auch die Anhänger alternativer, klimaneutraler und atomfreier Stromversorgung fordert er zum Umdenken auf. Ihre Vorstellung einer strikt dezentralen und kleinräumigen Versorgung sei unhaltbar. "Nur großräumige Vernetzung, internationale und sogar interkontinentale Kooperation machen es möglich, günstigen Strom für ganz Europa und seine Nachbarn ausschließlich aus erneuerbaren Energien bereit zu stellen." So Czisch unlängst bei einem Symposium anlässlich der Verleihung des "Nuclear Free Future Award" in Salzburg.
Czischs starke Ansagen sind Ergebnis mehrjähriger Forschungsarbeit am Institut für Solare Energieversorgungstechnik der Universität Kassel. Der Physiker denkt an einen vernetzten Raum von Sibirien bis Nordafrika mit insgesamt 1,1 Milliarden Menschen. Irgendwo in diesem Raum weht der Wind und scheint die Sonne immer kräftig. In diesem großen Gebiet können nicht nur die jeweils wirtschaftlichsten Standorte genutzt werden, sondern auch die saisonalen und tageszeitlichen Schwankungen, die bei erneuerbaren Energien ein Problem sind, optimal ausgeglichen werden.


Mehr Wind zur optimalen Jahreszeit
Deutschland und Spanien gelten bereits als Musterländer bei der Nutzung der Windenergie. Die Nordsee, England, Schottland und Irland sind zusätzlich europäische Wind-Hoffnungsgebiete. Aber Czisch hat in seiner Studie nicht nur meteorologische Daten aus Europa verarbeitet, sondern auch einen Blick über die Grenzen hinaus getan. Und dort weht der Wind noch stärker.
Deutsche Windkraftanlagen laufen durchschnittlich 1.600 Volllaststunden pro Jahr. In Irland und England könnten es durchschnittlich 2.700 sein, in den Steppen Kasachstans bis zu 4.000. Am Westrand der Sahara, in Marokko und Mauretanien, wären es durchschnittlich 3.000 bis 3.400, in dortigen optimalen küstennahen Lagen laut Messungen des Deutschen Windenergie Instituts (DEWI) sogar bis zu 4.500 Volllaststunden.
Zwei weitere Vorteile der "Randlagen" kommen dazu. Sie sind sehr dünn besiedelt oder menschenleer. Nutzungskonflikte, die im dicht besiedelten Mitteleuropa ein Hindernis für den Ausbau der Windenergie darstellen, stellen sich in den Wüsten und Steppen kaum. Noch bedeutender sind für Czisch der saisonalen Ausgleichseffekte. Windparks in der Nordsee, in Deutschland, in England oder Irland liefern den meisten Strom im Winter, jene am westlichen Rande der Sahara laufen dagegen im Sommer auf Hochtouren.


100 Mal den europäischen Strombedarf
Gegenwärtig verbraucht die EU-Länder jährlich rund 2.350 Terra Wattstunden Strom. Das wäre für die von Czisch untersuchten Windhoffnungsgebiete ein Klacks: "Die Regionen Nordrussland mit Nordwestsibirien, Nordwestafrika und Kasachstan bieten jede für sich ein Vielfaches des Potenzials, das für eine Stromerzeugung von der Größe des EU- Stromverbrauchs nötig wäre." Theoretisch könnten dort "wenn nur Flächen berücksichtigt werden, auf denen Auslastungen von mehr als 1.500 Volllaststunden zu erwarten sind, 120.000 bis 240.000 Terra Wattstunden Windstrom erzeugt werden. Dies entspricht etwa dem 100fachen des EU-Strombedarfs". Für den tatsächlichen Verbrauch seien dementsprechend auch nur die allerbesten Standorte notwendig.
Einen zusätzlichen Gewinn sieht Czisch in einem Entwicklungsschub für die Länder Nordafrikas, der weit über dem liege, was mit "Entwicklungshilfe" geleistet werden könne. Wirtschaft, Technik und Infrastruktur würden profitieren, ganz Nordafrika könne mit günstigem Strom aus eigenen erneuerbaren Ressourcen versorgt wären.


Ein Supernetz von Sibirien bis Marokko
Den Stromtransport möglich machen soll ein "Supernetz" über tausende Kilometer vom Rand der Sahara in Marokko und Mauretanien bis nach Nordeuropa. HGÜ heißt die Zauberformel: "Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungsanlagen". Diese können große Strommengen mit geringen Übertragungsverlusten über weite Strecken transportieren. "Das ist bereits bewährte Technik", so Czisch. Er verweist auf Beispiele, etwa in China. Dort hat Siemens bereits 2005 eine über 900 Kilometer lange HGÜ-Leitung fertig gestellt. Sie überträgt problemlos eine elektrische Leistung von 3.000 Megawatt vom Westen in den Süden Chinas. Gegenwärtig baut Siemens in China eine HGÜ-Leitung für 5.000 Megawatt über 1.400 Kilometer Länge.
Selbst Distanzen von über 5.000 Kilometer schrecken den Physiker nicht. Mit HGÜ-Technik könnte Wind- und Solarstrom auch vom Rand der Sahara bei heutigen Preisen kostengünstig zuerst ins angrenzende Spanien und dann weiter nach Mitteleuropa transportiert werden.


Ergänzung durch Sonne, Wasserkraft und Biomasse
Im Czischs Szenario stellt Windenergie mit rund zwei Drittel den mit Abstand größten Strom-Anteil. Eine wesentliche ergänzende Rolle soll allerdings die Wasserkraft, vor allem aus Speicherkraftwerken, spielen. Gerade bei erneuerbaren Energien mit ihrer fluktuierenden Stromerzeugung komme "dem gezielt regelbaren Teil des Kraftwerksparks zunehmend die Aufgabe zu, Engpässe auszugleichen". Hierfür seien "vor allem schnell regelbare Kraftwerke wie die Speicherkraftwerke vonnöten." Czisch hat dafür vor allem die bereits bestehenden Speicherkraftwerke in Norwegen und Schweden im Visier. Der skandinavische "NORDEL-Verbund" mit seinem Speichervermögen von 120 Terra Wattstunden könnte "in einem leistungsstarken europäischen Verbundsystem eine sehr wichtige Rolle spielen".
Die zweite große Ergänzung zum Wind wäre Solarstrom, gewonnen in großen Parabolrinnenkraftwerken, ebenfalls in den Wüstenregionen Nordafrikas.
Parabolrinnenkraftwerke funktionieren ähnlich dem Prinzip konventioneller kalorischer Kraftwerke über die Erzeugung von Wasserdampf. Im Gegensatz zu kalorischen Kraftwerken wird das Wasser hier allerdings mit Sonnenergie erhitzt.
Groß ausgelegte Parabolrinnenkraftwerke können mit entsprechend großen Wärmespeichern ausgestattet werden. Der Vorteil ist, dass diese Kraftwerke dann nicht nur am Tag bei Sonneneinstrahlung Strom produzieren können, sondern auch anschließend in der Nacht. Dann müsse, so Czisch, "zu keiner Zeit solar erzeugte Wärme ungenutzt bleiben". Ein Teil der Abwärme kann sogar zusätzlich noch für Meerwasserentsalzung im großen Stil genutzt werden.
Das Solarstrom-Potential aus der Sahara ist gigantisch: "Die Wüstenflächen Nordafrikas bieten bei Nutzung dieser Technik ein Potential, das rund 500 mal die Erzeugung des Stromverbrauchs der EU-Mitgliedsstaaten erlaubt."
Allerdings, die Vorteile können auch in diesem Fall nur im interkontinentalen Verbund optimal realisiert werden. Die Leistung der Parabolrinnenkraftwerke sinkt bei jahreszeitlich bedingtem flachem Sonnenstand auch in Nordafrika. Dadurch ist laut Czisch "die Solarthermie alleine nicht gut geeignet, dem Verlauf des europäischen Stromverbrauchs zu folgen". Wirklich vorteilhaft seien Parabolrinnenkraftwerke in der Sahara daher vor allem "in Kombination mit der europäischen Windstromerzeugung."
Eine dritte Ergänzung können Biomasse-Kraftwerke in Europa übernehmen. Die Stromerzeugung aus Holz, Stroh, etc. ist zwar teurer als die sonstigen durchschnittlichen Stromkosten in Czischs Szenario, sie trägt aber durch ihre "Backup-Eignung", also die gute Steuerbarkeit unabhängig von saisonalen oder tageszeitlichen Schwankungen "wesentlich zur Kostenoptimierung des Gesamtsystems bei".


Sogar wirtschaftlich günstiger
Gregor Czisch errechnete auf heutiger Preisbasis die Gestehungs- plus Transportkosten bis nach Mitteleuropa für Windstrom aus der Sahara unter günstigsten Voraussetzungen und von den besten Standorten mit 3,5 Cent pro Kilowattstunde. Für das gesamte Szenario, also mit den Ergänzungen von Solarstrom aus Parabolrinnenkraftwerken, sowie Strom aus europäischen Speicher-, Biomasse- und Windkraftwerken wären es 4,7 Cent pro Kilowattstunde. Das wäre bereits "sehr nahe am heute üblichen Preis für konventionell erzeugten Strom". Die geringfügige Mehrbelastung von beispielsweise für Deutschland etwa 3 Promille des Bruttosozialprodukts sei "in Anbetracht der Klima- und Ressourcenproblematik eher unbedeutend".
Stelle man noch die bei Weichenstellungen und Auftragsvolumen dieser Größenordnung, durchaus realistisch erwartbaren Preissenkungen in Rechnung, sei "eine regenerative Vollversorgung vorstellbar, die sogar wirtschaftlich günstiger ist, als die heutige Stromversorgung".


Bildtext: Der Physiker Gregor Czisch von der Universität Kassel beim Symposium zum "Nuklear Free Future Award" in Salzburg.
Foto: Breidenbach
Bildtext: In einem Parabolrinnenkraftwerk, im Bild in Spanien, erhitzt die Sonne Wasser. Der so erzeugte Wasserdampf treibt die Turbinen für die Stromgewinnung an. In der Sahara könnte theoretisch mit dieser Technik 500 Mal der europäische Strombedarf gedeckt werden.
Foto: Solar-Millennium AG
Bildtext: Windkraft, im Bild eine Anlage aus Nordeuropa ist die derzeit wirtschaftlichste Technik für die Gewinnung von Strom aus erneuerbaren Energien. In den menschenleeren Wüsten Nordafrikas bläst so viel Wind, dass damit 100 Mal der derzeitige Strombedarf der gesamten EU gedeckt werden könnte.
Foto: Nordex-AG