Freitag, 11. Januar 2008


von Heinrich Breidenbach

Eine Million Unterschriften für Europa

Gemeinsame politische europäische Öffentlichkeit von unten


Vom Lissabonner Verhandlungstisch über den neuen EU-Reformvertrag sind ein paar demokratische Krümel abgefallen. Das „Europäische Bürgerbegehren“ wird weltweit das erste Element transnationaler direkter Demokratie sein.


Nur keine Verwechslungen. Mehr „Handlungsfähigkeit“ ist nicht gleich mehr Demokratie. Der EU mangelt es an beidem. Ersteres wird mit dem in verhandelten Reformvertrag leidlich behoben. Letzteres nicht. Die Institutionen werden an die Erweiterungen der letzten Jahre angepasst. Mehrheitsentscheidungen werden Beschlüsse einfacher machen. Ein Ratspräsident wird für mehr Kontinuität sorgen. Ein de facto Außenminister wird der EU Gesicht und Stimme nach außen geben. Das ganze komplizierte Brüsseler Werkl wird etwas runder rennen.
Neben diesen pragmatischen Management-Anpassungen werden weit reichende und unterschiedlich interpretierbare politische Ziele festgeschrieben. Für jeden Geschmack ist etwas dabei. „Binnenmarkt“, „Wettbewerb“ und „Subsidiarität“ ebenso, wie „Soziale Marktwirtschaft“ oder „Solidarität“. Sehr präzise kann der Vertrag auch sein, wenn er will. Etwa so: „Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.“ Das ist eindeutig und sitzt.
Eine demokratische Verfassung würde jedenfalls anders aussehen. Von einer klassischen demokratischen Gewaltenteilung kann nach wie vor keine Rede sein. Auf lange Zeit ist damit festgeschrieben, dass die von den Nationalstaaten nach Brüssel abgegebenen Kompetenzen dort in einem hoch komplizierten und schwer durchschaubaren Kompetenzdschungel verwaltet werden.
„Historische“ Erfolge würden anders aussehen.


Ein zartes Pflänzchen
Die Bürger dürfen sich dennoch über zwei kleine Fortschritte freuen. Einmal hält die so genannte „Charta der Grundrechte“ europäische Bürgerrechte erstmals rechtsverbindlich fest. Interessanter ist ein zweites demokratisches Krümelchen, das vom Lissabonner Verhandlungstisch abgefallen ist: Das „Europäische Bürgerbegehren“. Mit einer Million Unterschriften aus einer „erheblichen Anzahl“ von EU-Ländern werden EU-Bürger einen Gesetzesantrag an die EU-Kommission stellen können. Die Kommission, sie behält exklusiv das Initiativrecht für Gesetzesvorlagen, muss sich damit beschäftigen und zumindest begründen, warum sie der Initiative nicht Folge leisten will.
Zugegeben, dieses weltweit erste Element transnationaler direkter Demokratie ist ein zartes Pflänzchen. Direkt und unmittelbar wird es wenig bewegen. Die Kompetenz, Gesetze zu beschließen, verbleibt alleine beim europäischen Rat aus den Fachministern oder Ministerpräsidenten der Mitgliedsländer. Das Parlament, es würde sich noch am ehesten einem Bürgerbegehren verpflichtet fühlen, hat nur Mitspracherechte. Zudem fixiert der neue Reformvertrag die EU auch unmissverständlich als Zone repräsentativer Demokratien.
Die Prognose, dass Europäische Bürgerbegehren ein ähnliches Schicksal erleiden werden, wie bislang die diversen Bürger- oder Volksbegehren in den Nationalstaaten, fällt nicht schwer.


Aber sie schaffen Öffentlichkeit
Aber Bürger- und Volksbegehren schaffen Bewusstsein und Aufmerksamkeit. Sie wirken mobilisierend und politisch bildend. Ein europäisches Bürgerbegehren würde zumindest zu einem Thema eine gemeinsame, staatenübergreifende Öffentlichkeit schaffen. Das wird der größte Gewinn sein. Es gibt keine gemeinsame europäische Öffentlichkeit zu gemeinsamen europäischen Agenden. Eine solche zerfällt immer in ganz spezifische nationalstaatliche Wahrnehmungen und banalisiert sich dort. Wie viele Kommissare oder Abgeordnete darf ein Land stellen? Wie viel Geld hat man „herausverhandelt“ oder muss nach Brüssel abgeführt werden? Welches Land hat sich „durchgesetzt“? Das sind die Themen und sind die Kommunikationsstrategien von oben. Sie sind fundamental gescheitert. Die Medien spielen dabei im Großen und Ganzen mit.
Ausnahmen gibt es auch, allerdings kommen sie immer von unten. So schafften etwa die europäischen Gewerkschaften in der Auseinandersetzung um die Dienstleistungsrichtlinie erste Ansätze einer EU-weiten politischen Öffentlichkeit.
Es ist ganz simpel. Ohne eine gemeinsame politische Öffentlichkeit hängen gemeinsame Institutionen und gemeinsame Politik unkontrolliert in der Luft. Ohne gemeinsame politische Öffentlichkeit gibt es keine gemeinsame Demokratie. Es fehlt dafür einfach die notwendige Basis. Das Faktum, dass es keine Überlegungen, keine Strategie in diese Richtung gibt, ist ein weiterer Beleg dafür. Der stets weise Volksmund kennt den Grund: Im Dunkeln ist gut munkeln. Tatsächlich ziehen aus dieser Situation all jene Vorteile, denen Öffentlichkeit ohnehin nur lästig ist.
Wenn nun Bürger aus mehreren europäischen Ländern ein gemeinsames politisches Ziel formulieren, dafür transnational mobilisieren und in Gestalt der EU-Kommission einen gemeinsamen Adressaten haben, dann bildet sich europäische Öffentlichkeit. Und diese wird zwangsläufig auch nur europäisch rezipiert werden können. Diese Öffentlichkeit wird etwas ganz anderes sein, als jene eines Ministers der aus nichtöffentlicher Ratssitzung von Brüssel nach Hause kommt und verkündet, er habe sich „durchgesetzt“, oder, trotz heroischen Kampfes, eben leider nicht. Wie meistens.
Das erste europäische Bürgerbegehren wird daher tatsächlich ein „historischer“ Schritt in Richtung einer gemeinsamen europäischen politischen Öffentlichkeit sein. Bekanntlich beginnt jede lange Reise mit einem ersten Schritt.


Vorgang wichtiger als Thema
Der Vorgang eines transnationalen Bürgerbegehrens an sich wird dabei bedeutender sein, als das Thema selbst. An solchen mangelt es ohnehin nicht. Eine Million Unterschriften sind zudem bei 493 Millionen EU-Bürgern kein unüberwindliches Hindernis. So sammelte etwa von Jänner bis Oktober dieses Jahres das „Europäische Behindertenforum“ (European Disability Forum) 1,2 Millionen Unterschriften für eine EU-Gleichstellungsdirektive. Die Petition wurde am 4. Oktober von Behinderten-Vertretern aus 30 europäischen Ländern in Brüssel übergeben. Über 600.000 Unterschriften haben europäische Anti-Atom Initiativen bislang für ihre Forderung an EU-Kommission und Parlament nach einem Auslaufen des Euratom-Vertrages gesammelt. Auch die Atomgegner peilen eine Million Unterschriften an.
Mit Inkrafttreten des Reformvertrages werden solche Initiativen aufgewertet. Sie haben mit der EU-Kommission einen Adressaten, ein klares Ziel, nämlich ein Gesetz, und ein geregeltes Prozedere, das beiderseitigen Erklärungsbedarf und damit – zumindest partielle - Öffentlichkeit schaffen wird. Ein Fortschritt.
Wann wird es so weit sein? Das Bürgerbegehren ist nur in sehr allgemeiner Form im Reformvertrag vorgesehen. Es bedarf noch der konkreten gesetzlichen Ausgestaltung. So steht etwa noch nicht fest, wie viele die „erhebliche Anzahl von Ländern“ sein werden, aus der die Unterschriften kommen müssen. Wenn der Zug der Ratifizierung des Reformvertrages nicht entgleist, könnte das erste europäische Bürgerbehren 2009 starten. Es gibt allerdings keinen wirklichen Grund, das Begehren den Unsicherheiten der Ratifizierung auszusetzen. Es könnte auch selbständig in europäisches Recht umgesetzt werden. Das wäre ohnehin besser, weil ohne den verdächtigen Beigeschmack eines Zuckerls für die Bürger.


Gekürzt erschienen unter dem Titel: „Ein Demokratie-Krümel im EU-Vertrag“