Meinung


SALZBURGER FENSTER 09/2012


von Heinrich Breidenbach

Kampusch: Ein Magnet für Obskuranten

Von Anfang an war der „Fall Kampusch“ ein Magnet für Merkwürden aller Art. Obskuranten, Verschwörungstheoretiker, selbsternannte politische Aufdecker und Wichtigtuer fühlten und fühlen sich bemüßigt, zur „Klärung“ der Geschehnisse beizutragen, oder wenigstens ihren Kommentar dazu zu geben.
Sie wollen Alle angeblich eh nur „die ganze Wahrheit“ wissen.
Es gilt zu unterscheiden. Auf die „Wahrheit“ über Ermittlungspannen und Behördenversagen hat die Öffentlichkeit einen Anspruch. Insbesondere würde das zutreffen, wenn es tatsächlich einen zweiten oder mehrere Täter geben würde. Ermittlungspannen gab es. Sie sind bekannt. Anhaltspunkte für einen zweiten Täter gibt es auch. Aber diese sind sehr, sehr vage, wurden mehrfach ergebnislos übergeprüft und stützen sich im Kern nur auf die Aussage eines damals kleinen Mädchens, das in wenigen Sekunden der Entführung zwei Täter gesehen haben will. Menschen können sich irren, Zeugen auch.
Auf mehr „Wahrheit“ gibt es kein Anrecht.
Natascha Kampusch, die acht Jahre ihrer Kindheit und Jugend eine Gefangene war, hat ein Recht darauf, nicht die „ganze Wahrheit“ über die Zeit mit ihrem Entführer öffentlich zu machen. Sie hat ein Recht darauf, dass auch die Ermittlungsbehörden private Details vor der Öffentlichkeit schützen. Es gibt absolut kein Recht der Öffentlichkeit auf diese „ganze Wahrheit“. Wem sollte das nützen? Letztlich nur der Geilheit von Sensationshungrigen und der Befriedigung voyeuristischer Neugier.

Zwei Mal Opfer
Im Entführungsfall Kampusch hat die Sensationsgier schon Schaden genug angerichtet. Das Opfer und ihre Familie sind über Jahre Gegenstand von windigen „Enthüllungen“ geworden. Ganz so, als müsste in einer Familie alles hundertprozentig in Ordnung sein, nur weil sie ein Verbrechensopfer ist. Ganz so, als müsste sich jemand immer so verhalten, wie es allen gefällt, nur weil er oder sie ein Opfer in einem Aufsehen erregenden Kriminalfall geworden ist. Das kann nicht sein.
Zuletzt lief auch noch ein Polizist Amok. Er hat versucht, sich ohne Auftrag und widerrechtlich in einer niederösterreichischen Schule Gen-Proben eines Mädchens, die er für eine Tochter Natascha Kampuschs hielt, zu besorgen. Die Einzelaktion ist Ausdruck der verrückt gewordenen verbreiteten Stimmung zu diesem Fall.
Es hat sich über die Jahre alles grotesk verdreht. Das Opfer wird als unglaubwürdiger Teil einer „Verschwörung“ hingestellt. So wurde die junge Frau zwei Mal Opfer, acht Jahre durch einen Entführer, und nunmehr bereits sechs Jahre durch aufgeregte Obskuranten, Politiker und Medien. Es sollte jetzt genug sein.

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Ötzi und Fukushima. Das Alter des „Mannes aus dem Eis“ wird mit rund 5.300 Jahren angenommen. Liegt das lang zurück? Alles ist relativ. Am 11. März jährt sich die Katastrophe in den Atomreaktoren von Fukushima. Ein seltener Unfall. Aber schauen wir uns einmal die zeitlichen Dimensionen der Folgen des atomaren „Normalbetriebes“ an. So verliert etwa das in Kernkraftwerken und im radioaktiven Abfall häufig vorhandene hochgiftige Plutonium-239 erst in 24.000 Jahren die Hälfte seiner Strahlenintensität. Das ist mehr als vier Mal die Zeitspanne, seit der Ötzi über die Alpen zog.
Gemessen an der Langlebigkeit jener Risiken, die unsere Epoche der Nachwelt überlassen wird, erscheint uns die berühmte Mumie plötzlich als zarter Jungspund. Es gibt trotzdem Leute, die für solche Zeitspannen angeblich „Verantwortung“ übernehmen können.

h.breidenbach@salzburger-fenster.at