Yachtrevue, Nr. 2-2009

Litoranea Veneta:
Der Inlandswasserweg von Venedig nach Grado

Zwischen Venedig und Grado existiert seit den Zeiten der Römer ein Netz von geschützten Inlandswasserwegen aus Lagunen, Kanälen, Flüssen und Schleusen. Der "Litoranea Veneta" ist mit Motor- und Hausbooten durchgehend befahrbar. Eine wunderbare Schiffsreise.


Blaue Stunde. Mildes Licht liegt über der Lagune. Pflanzen leuchten in kräftigem Rot und hellem Grün in der Abendsonne. Ein Spaziergang führt an der aufgelassenen "Schuola Elementari" vorbei, am plätschernden Süßwasserbrunnen, an zeitweise genutzten Fischerhäuschen und langsam im Schlick vermodernden alten Holzbooten.
Alle Tagesgäste sind weg. Die Wirtsleute der "Trattoria ai Ciodi" haben uns noch hervorragend mit frischen Fisch bekocht und sind dann mit ihrem Motorboot nach Grado zurückgefahren. Jetzt am Abend gehört die bis in die sechziger Jahre bewohnte "Isola Anfora" in der Lagune von Grado ganz allein den zurückgebliebenen Bootsfahrern.
Heute sind es ganze Vier. Zwei, darunter der Autor dieser Zeilen, sind mit einem gemütlichen Hausboot angetuckert gekommen. Dagmar und Rolf liegen mit ihrer Segelyacht an der kurzen Mole. Sie könnten jetzt gar nicht mehr aus der kleinen Bucht mit ihrer seichten Einfahrt auslaufen. Das macht nichts. Wie es sich gehört, haben sie einen Gezeitenkalender an Bord. "Morgen Vormittag mit der Flut laufen wir aus." Zeit genug also für ein Glas Wein und einen netten Plausch. So geht das in Lagunengewässern!
Früher einmal, zu Zeiten der alten Römer, beherbergte die Insel ein großes Warenlager. Öl und Wein wurden hier in großen Mengen in antiken Anforen gelagert. Daher der Name "Isola Anfora". Viele makabre, tragische und amüsante Geschichten gäbe es alleine über diese Insel zu erzählen, die für Jahrzehnte ein letzter Vorposten der österreichisch-ungarischen Monarchie war. Auf der gegenüber liegenden Seite des "Canale Aussa Corno", auf der "Isola di San Andrea", begann Italien.
Aber wir wollen hier vor allem nautische Informationen über eine Reise auf alten Wasserwegen geben. Und ein schöner Abend auf dieser Insel beim "Porto Buso" ist nur ein kleiner Teil davon, wenngleich auch einer, den man keinesfalls versäumen sollte.
Also der Reihe nach.


Zwei große Überraschungen
Wir bewegen uns in einem der größten zusammenhängenden Lagunen-, Fluss- und Kanalsysteme Europas, das sich insgesamt von der Mündung des Isonzo im Golf von Triest bis weit in das Po-Delta erstreckt. Schon die alten Römer und natürlich die Seerepublik Venedig wussten um die Vorteile dieser bei jedem Wetter sicheren schiffbaren Verbindung, bei der man nie auf das offene Meer hinaus muss. Der "Litoranea Veneta" führt über fünf prächtige Lagunen (Venedig, Caorle, Baseleghe, Marano und Grado), mehrere Flüsse und künstlich angelegte Kanäle von Venedig nach Grado. Insgesamt ist die Reise rund 150 bis 200 Kilometer lang. Es kommt ganz darauf an, ob man den einen oder anderen Abstecher landeinwärts auf den zahlreichen Flüssen unternimmt, und wie intensiv man die Lagunen befährt. Eine Woche sollte man sich mindestens dafür Zeit nehmen. Es darf auch mehr sein. Hier geht es nicht um Geschwindigkeit, sondern um langsames Entdecken. Je entspannter man es angeht, desto genussvoller verläuft diese Bootsfahrt. Für Motor- und Hausboote bis zu einer Höhe von 3,5 Metern, das ist die Durchfahrtshöhe der niedersten festen Brücke, ist die gesamte Tour problemlos befahrbar.
Zwei große Überraschungen birgt diese Reise. Einmal ist es verblüffend, wie still, einsam und naturnah es in unmittelbarer Nachbarschaft der großen touristischen Zentren Oberitaliens sein kann. Nur mit dem Boot kann diese Region so erlebt werden. Zweitens entpuppt sich die von der offenen Adria aus gesehene monotone Abfolge von Sandstränden aus der Nähe und in den küstennahen Wasserwegen als eine faszinierende amphibische Welt, in der Land und Meer ineinander übergehen, ihre Grenzen auflösen und vielfältigste Landschaften hervorbringen.


Ausgangspunkt Chioggia
Als Ausgangspunkt der Reise empfiehlt sich das hübsche Fischerstädtchen Chioggia im äußersten Süden der Lagune von Venedig. Dort befindet sich auch eine Hausbootbasis, die Einwegtouren von Chioggia bis Marano Lagunare, inklusive Überstellung des Autos, anbietet. Motorboote können in praktisch allen größeren Marinas der Region zu Wasser gelassen werden.
Von Chioggia aus muss - nein, darf! - die Lagune von Venedig von Süd nach Nord durchfahren werden. Die zahlreichen schiffbaren Kanäle lassen hier viele Varianten zu. Eine davon führt etwa entlang der Fischerinsel Pellestrina und der mondänen Badeinsel Lido in den "Canale di San Nicolo" und von dort in das "Bacino di San Marco" direkt vor den Dogenpalast und den Markusplatz. Keine andere Bootsfahrt bietet so viel gebaute Schönheit auf so engem Raum. Auf eigenem Kiel lässt sich diese prächtige Kulisse im selbst bestimmten Rhythmus erleben.
Vielfältig ist auch das Netz schiffbarer Kanäle in der nördlichen Lagune. Hier können unter anderen die Bauerninseln San Erasmo und Le Vignole, die Glasbläserinsel Murano, das bunte Burano und die früh besiedelte Insel Torcello mit ihrer markanten Basilika auf dem Weg mitgenommen werden.
Von Torcello schlängelt sich nordwärts der schilfgesäumte "Canale Silone" bis zur Schleuse von Portegrandi. Mit der problemlosen Schleusung (siehe Info-Kasten) verlassen wir die Lagune von Venedig und gelangen in den Fluss Sile.


Einsame Flüsse
Zugegeben, der erste Fluss unserer Reise ist eine Enttäuschung. Erst im Oberlauf Richtung Casier und Treviso ist der Sile ein naturnaher Genuss. Wir aber fahren flussabwärts auf einem schnurgeraden Abschnitt bis Caposile. Aber es sind eh nur neun Kilometer. Und nach der Ponton-Brücke von Caposile, die, wie andere auch, nach telefonischer Kontaktaufnahme (siehe Info-Kasten) für Boote geöffnet wird, zweigen wir nach links (Norden) in den Fluss "Piave Vecchia" ab. Jetzt wird es landschaftlich wieder reizvoll. Der Fluss schlängelt sich verwachsen durch die Landschaft, Seerosen blühen, Weiden hängen weit über dem Wasser. Der kleine Ort Chiesanuova bietet einen nett gelegenen öffentlichen Anleger und lädt zu einem Halt oder zur Übernachtung ein. Die fast immer geöffnete Schleuse von Musile di Piave führt uns schließlich auf den breiten und tiefen Fluss Piave. Einsam liegt er da. Es scheint so, als wären die Flüsse seit sie ihre Bedeutung als Transportwege verloren haben, von den Italienern fast vergessen worden. Auf dem Weg flussabwärts in Richtung Adria begegnen wir keinem anderen Boot.


Vernetzte Kanäle
Kurz vor dem kleinen Fischer- und Badeort Cortellazzo, der bereits an der Adria liegt, biegen wir nach Nordosten in den "Canale Redevoli" ab, und gelangen in das vernetzte Reich der künstlich angelegten Inlandskanäle. Man könnte sich unter "Kanälen" wenig attraktive Gerinne vorstellen. Dem ist aber absolut nicht so. Diese Kanäle sind alt und Bestandteil der Landschaft geworden. Sie sind belebt, verwachsen, mit Flüssen und der nahen Adria verbunden. Unser "Litoranea Veneta" führt nun über die Kanäle "Redevoli", "Largon", "Commessera", "Orologio" und "Saetta" inmitten landwirtschaftlicher Flächen, vorbei an der Touristenmetropole Caorle bis zu den "Bocca Volta", dem Tor zur Lagune von Caorle.


Casoni, Schilf und Ausgrabungen
Wer würde in unmittelbarer Nachbarschaft von touristischen Orten wie Caorle oder Bibione so viel Stille und ausgedehnte Naturschutzgebiete vermuten. Die Lagunen von Caorle und Baseleghe bieten das. Der "Litoranea Veneta" führt durch beide Lagunen und weiter gen Osten zum Fluss Tagliamento, diesem ein kurzes Stück flussaufwärts und dann über den "Canale Tagliamento" hinein in die Lagunen von Marano und Grado. Damit ist der letzte Abschnitt unserer Reise erreicht. Die beiden Lagunen sind nur dem Namen nach getrennt, in der Realität sind sie eine zusammenhängende, amphibische Landschaft aus weiten Wasserflächen, ausgedehnten bei Ebbe trocken fallenden Sumpfwiesen, breiten Schilfgürteln und unzähligen kleinen Inseln, die oft nur Platz für ein schilfbedecktes Häuschen und einen bunten Garten bieten. Die fast kitschig hübschen "Casoni" wurden bis vor wenigen Jahrzehnten von den Fischerfamilien noch durchgehend bewohnt. Heute dienen sie den Fischern noch als Stützpunkte oder als Wochenendhäuschen.
Auf gut gekennzeichneten und beschilderten Kanälen schlängeln wir uns durch die Lagune. Die oben gepriesene "Isola Anfora" mit dem guten Restaurant "Ai Ciodi" und der kleinen Bucht liegt am Weg. Der Abschnitt zwischen ihr und der Fischer- und Touristenstadt Grado ist der landschaftlich reizvollste Teil dieser Lagune.
Ein Besuch von Grado empfiehlt sich. Eine schöne Draufgabe wäre noch das sehenswerte Aquileia mit seinen römischen Ausgrabungen und einer beeindruckenden Basilika. Dafür müssten Sie ein Stück den in die Lagune mündenden Fluss Natissa hinauf fahren.
Mit dem privaten Boot tun sie anschließend was immer sie wollen. Mit dem One-Way gecharterten Hausboot fahren Sie von Ost nach West zurück durch die Lagune und wenden sich dann nordwärts zum Fischerdorf "Marano Lagunare". In der dortigen Marina wartet schon Ihr Auto.


Infos


Orientierung, Karten, Gezeiten, Literatur…

Orientierung:
In der Lagune von Venedig ist die Orientierung nicht ganz einfach. Die schiffbaren Kanäle sind zahlreich und sehr unterschiedlich breit. Manchmal sind die Kanäle beidseitig mit Dalben begrenzt, manchmal nur an einer Seite. Also Zeit lassen und genau navigieren! Ein Tipp: Die nummerierte und häufig auch mit einem weißen Farbklecks gekennzeichnete Seite der Dalben schaut immer in Richtung des schiffbaren Kanals. Wesentlich weniger anspruchsvoll ist die Navigation in den Lagunen von Caorle, Baseleghe, Marano und Grado. Dies vor allem deshalb, weil sie von weniger Kanälen durchzogen werden und kaum Verwechslungsgefahr besteht.
Gecharterte Hausboote sind häufig nicht mit einem Kompass ausgerüstet. Es empfiehlt sich, einen mitzunehmen.


Karten:
Im Maßstab 1:50.000 bieten zwei Verlage Karten für das gesamte Revier an. Der Verlag "Bonomo Libri" mit seiner "Navigabene - Carte Nautiche" Linie. Und der Verlag "Belletti Editore" mit seiner "Carte Nautico-Turistiche" Linie. Die Karten beider Verlage über die Lagune von Venedig, die Lagune von Caorle und die Lagunen von Marano und Grado decken insgesamt den gesamten "Litoranea Veneta" ab.
Die Karten sind für die Orientierung unbedingt notwendig. Veraltet sind darin manche Informationen über Marinas, Brücken und Schleusen. Insgesamt aber sind sie brauchbar. Die Tiefenangaben in den Karten beziehen sich auf den mittleren Wasserstand. Sie können bei Ebbe also unter- und bei Flut überschritten werden. In Lagunengewässern, Flüssen und Flussmündungen sind Tiefenangaben grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen. Versandungen können nicht ausgeschlossen werden. Zusätzliche Aufmerksamkeit schadet nicht.


Marinas, Anlegemöglichkeiten und Ankerplätze:
Man findet seinen Platz. Dutzende große und kleine Marinas bieten im Revier des "Litoranea Veneta" ihre guten Dienste an. Dazu kommen Gratis-Anleger vor Orten, Restaurant-Anleger und zahlreiche sonstige Möglichkeiten, die mit etwas nautischer Intelligenz gut nutzbar sind. Die Hausboot-Vercharterer in der Region bieten auch eigens reservierte Liegeplätze in der Lagune von Venedig an. Klassische Ankerbuchten gibt es in den Lagunen nicht. Aber überall dort wo es ausreichend Platz und Tiefgang gibt, und der Schiffsverkehr, vor allem der Linienverkehr in der Lagune von Venedig, nicht behindert wird, ist es grundsätzlich möglich.


Gezeiten:
Das gesamte Revier des Litoranea Veneta ist von den Gezeitenströmen der Adria beeinflusst. In den Lagunen sind die Gezeiten wesentlich deutlicher spürbar als in der offenen Adria. Der Gezeitenunterschied kann mehr als einem Meter betragen. In einzelnen Kanälen und in der Nähe der Mündungen der Lagunen in die Adria, kann der Gezeitenstrom so stark sein, dass schwach motorisierte Boote Mühe haben, gegen den Strom anzukommen. Der Gezeitenstrom ist jedenfalls beim Ankern, beim Baden, bei Anlegemanövern, etc. zu beachten. Gezeitenkalender für jeden Tag und jede Stunde des Jahres sind in den meisten nautischen Einrichtungen als kleine Broschüren zu bekommen. Im Internet kann der Gezeitenkalender für Venedig herunter geladen werden. Derzeit verläuft der etwas komplizierte Zugang so: Zuerst auf www.comune.venezia.it denn in der Reihenfolge auf "comune", auf "Centro maree", "La marea", La marea astronomica", mit Klick auf "I grafici della marea astronomica" ist man dann endlich am Ziel.


Schleusen, Brücken und Telefonnummern:
Auf dem "Litoranea Veneta" sind zahlreiche Schleusen, sowie Ponton- oder Drehbrücken zu passieren. Sie sind ein bisschen die Würze des Unternehmens. Vor allem deshalb, weil sich die Öffnungszeiten und die Telefon-Nummern unter denen die Brücken- und Schleusenwärter zu erreichen sind, gelegentlich ändern. Die Hausboot-Vercharterer versuchen redlich, ihren Kunden eine aktuelle Liste mitzugeben. Für etwas Spannung ist trotzdem immer gesorgt. Aber wir sind in Italien und irgendwie klappt es immer. Ein Handy muss jedenfalls an Bord sein.


Literatur:
Heinrich Breidenbach: "Die Lagunen von Venedig bis Grado, Plus Po-Delta, Häfen-Inseln-Wasserwege", Edition Maritim, 2008. In diesem nautischen Reiseführer wird unter anderem der gesamte "Litoranea Veneta" detailliert mit allen für Bootsfahrer notwendigen Informationen beschrieben.
Günter Lengnink: "Lagunengeheimnisse", Band 1 und 2, Verlag Virtual Store, München 2003.
Günther Schatzdorfer, Wolfgang Böck: "Besser. Einfach. Eine kulinarisch-kulturelle Reise durch die Lagunen nach Venedig." Verlag Carinthia, Klagenfurt 2007.
Das ist kein nautischer Führer, aber ein amüsant und klug geschriebenes Buch des Wiener Schriftstellers Günther Schatzdorfer und des Fernsehkommissars Wolfgang Böck über eine Hausbootreise auf dem "Litoranea Veneta".